Hochsensibel leben,
etwas, das gelernt werden will.
Hochsensible Menschen leben überwiegend in dem Empfinden, von auf sie einwirkenden Eindrücken geradezu hinweggespült zu werden.
Wo in all dem sind sie selbst? Wo können sie sich finden? Wo können sie ihrer selbst sicher sein?
Rückzug und Abschottung erscheinen meist als einzige Möglichkeit, den Eindrücken zu entkommen. Und dann beginnt der Kampf um Abgrenzung oder die Hoffnung auf die Rücksichtnahme der Anderen, die Hoffnung auf Verständnis, die Hoffnung darauf, wahrgenommen zu werden, wie man ist, so grenzenlos offen.
Grenzenlosigkeit – ja, darin liegt das Problem.
Wie die eigenen Grenzen schließen, wie sie erkennen?
Grenzenlos fühlt sich, wessen Grenzen im Aufwachsen nicht Bestätigung fanden, nie Bestärkung erfuhren. Grenzen, die nicht anerkannt werden, bieten keinen Schutz.
Dann muss man sich hinter die Grenzen von anderen, von größeren, scheinbar stärkeren flüchten, muss eins mit ihnen werden, um ein wenig Sicherheit zu finden.
Identifikation nennt sich das.
Man macht sich gleich, um in den Grenzen des Anderen nicht als störend wahrgenommen zu werden, keinen Widerstand auszulösen. Sich in den Grenzen eines Anderen aufzuhalten ist gefährlich, aber ohne Grenzen zu leben, ist schlimmer, wenn nicht gar tödlich.
Gefahr schärft die Sinne.
Gefahr macht es notwendig, jede kleinste Regung wahrzunehmen. Immer auf Empfang geschaltet. Wahrnehmung garantiert das Überleben, wird zur höchsten Begabung. Wer sich selbst nicht schützen kann, muss wissen, wann er fliehen muss, wann er unsichtbar sein muss oder was er Besänftigendes tun kann.
Hochsensible sind Meister der Wahrnehmung. Sie erspüren feinste innere Regungen im Anderen, feinste Strömungen in der Umgebung. Im Überlebenstrieb auf Identifikation ausgerichtet überschreiten sie die Grenzen des Äußeren und kommen anderen oft zu nahe. Ihre Wahrnehmung ist auf Gefahr ausgerichtet und alles wird auf seine mögliche Gefährlichkeit geprüft. Deshalb spüren sie im Anderen alles auf, was unstimmig ist, ob sie wollen oder nicht. So manchem erscheinen sie deshalb selbst als gefährlich, denn wer möchte nicht irgendetwas in sich vor anderen verbergen?
Schutz ist das zentrale Thema des Hochsensiblen.
Ein seelischer Schutz, den er in den Anfängen seines Lebens nicht ausreichend erfahren hat. Ein Schutz, der ihm nicht gewährt werden konnte, weil die Eltern selbst sich nicht schützen konnten, weil sie vielleicht selbst im Leid oder im Kampf ums Überleben verloren waren oder auch im Kampf gegeneinander. Um seelischen Schutz zu gewähren, um die natürlichen Grenzen und damit die wesensgemäße Eigenständigkeit eines Kindes anzuerkennen, bedarf es einer seelischen Stärke, einer inneren Ausgewogenheit, eines partnerschaftlichen Miteinanders.
Danach sucht der hochsensible Mensch dann später auch bei seinem Partner, mit dem er gerne eins-werden würde, wenn er es nur könnte. Aber jedes Eins-werden bedeutet für ihn zugleich auch Selbstaufgabe und endet nur allzu oft im Kampf um Wahrgenommen-werden.
Im Sich-selbst-schützen-lernen liegt der erste Schritt zum erfolgreichen Umgang mit der Hochsensibilität.
Das Bewusstsein der eigenen Stärke gilt es zu fördern und zwar auch ganz körperlich. Diese Erfahrung fehlt in der kindlichen Entwicklung. Sie wurde umgangen durch den Einsatz der Hochsensibilität. Es fehlt die Erfahrung, Gefahren standhalten zu können. Es fehlt die Erfahrung, ein Ich, einen eigenen Willen auch gegen Widerstand erfolgreich unter Beweis zu stellen. Es fehlt die Erfahrung sich selbstverständlich in den Raum zu stellen, Raum einzunehmen. Das kann man nicht, wenn man in den Grenzen eines Anderen lebt. Dazu fordern die ständigen Grenzverletzungen, die ein Hochsensibler erlebt, ihn aber auf. Es fehlt ihm nicht an Grenzen, sondern an der Kraft diese auch zu halten und an ihrer Bewusstwerdung.
Willenstraining ist notwendig und der Aufbau von Körperbewusstsein, um Grenzen sowohl zu erkennen, als auch zu halten. Kampfsport dürfte der schnellste und direkteste Weg dazu sein. Das ist meine Erfahrung. Er ermöglicht es, sich unter Anleitung und mit Unterstützung Gefahrensituationen zu stellen und sie zu bewältigen.
Erst wenn die hochsensible Wahrnehmung nicht mehr auf die Früherkennung von Gefahr ausgerichtet ist, kann sie ihre volle Bandbreite und ihr volles Potential entfalten.
In der Bereitschaft zur Identifikation liegt die zweite Hürde.
Identifikation soll Nähe bewirken und Entfremdung bzw. Ablehnung vermeiden. Wer sich mit einem anderen Menschen identifiziert, erhofft sich dies auch von seinem Gegenüber. Er glaubt, dann von diesem erkannt und angenommen zu werden. Oft wird die gegenseitige Identifikation für Liebe gehalten. Aber das Gegenteil ist der Fall.
Identifikation ist eine Gleichschaltung und beim Gegenüber ein Eindringen durch die Hintertür. Gleichschaltung kann nicht Liebe sein, denn sie führt zum Selbstverlust des energetisch Schwächeren. Das empfindet der Hochsensible dann als ein Eindringen in ihn, dem er nichts entgegensetzen kann. Er weiß nicht mehr, ob das, was er fühlt von ihm stammt oder doch eher von dem Anderen? Wie soll er es in der Gleichschaltung unterscheiden?
Er weiß nur, dass er häufiger in einer Weise reagiert, die er selbst nicht wirklich versteht, es im Nachhinein und allein nicht nachvollziehen kann.
Am liebsten würde er dafür sorgen, dass es dem Anderen gut geht, dass alles in ihm in Ordnung ist. Dann wäre er sicher, dann ginge es auch ihm gut. Deshalb möchten Hochsensible so gerne die Welt heilen. Aber darin liegt die Lösung nicht.
Die Lösung liegt in der gestärkten Identifikation mit sich selbst.
Das ist sicher einfacher gesagt, als getan, ist doch der Akt der Identifikation dem Hochsensiblen selbst meist gar nicht bewusst.
Grundlegend notwendig ist zuerst die Erkenntnis, dass nicht alles, was ein Hochsensibler fühlt, auch wirklich ihm entspringen muss. Wie viel und was er von anderen fühlt wird davon bestimmt, wie stark er sich auf etwas ausrichtet. Solange er gänzlich auf Gefahrenwahrnehmung und/oder auch auf einen Partner ausgerichtet ist, kann er keine Grenzen wahren und kaum wählen. Deshalb sind die Erfahrungen des Gefahren-standhalten-Könnens so bedeutsam. Sie setzen ein Wahrnehmungspotenzial frei, das von ihm auf seine Eigenwahrnehmung ausgerichtet werden kann. Von allein geschieht dies allerdings nicht. Es bedarf einer ausdauernden Übung des Selbstgewahrseins, das mit dem Aufbau des Körperbewusstseins beginnt und sehr gut während des Erlernens eines Kampfsportes trainiert werden kann. Es gilt, sich auf die urteilsfreie und differenzierte Wahrnehmung des eigenen Körpers auszurichten, um die feinen Unterschiede zwischen eigenem Empfinden und übernommenen Empfinden erkennen zu lernen.
Je mehr Erfahrungen damit gesammelt wurden, um so leichter wird es, sich konstant mit sich selbst zu identifizieren, sich selbst identifizieren zu können.
Die Regel lautet: Aufmerksamkeit im gleichen Maße nach innen zu richten wie nach außen, die Wahrnehmung gleichermaßen auf sich selbst zu richten, wie auf Äußeres.
Ein Hochsensibler bleibt ein Hochsensibler.
Wenn er jedoch lernt, mit seiner Begabung umzugehen, wird er nicht mehr unter ihr leiden. Er wird die Fähigkeit erlangen, sich selbst die Umgebung zu erschaffen, derer er bedarf und die ihm gut tut und den für ihn notwendigen Abstand zum Geschehen zu halten.
Mir ist es auf diesem Weg für mein Leben gelungen und ich kann meine Gabe nach meinem Willen einsetzen.
Entscheidend dafür war, dass ich gelernt habe, meinen eigenen Empfindungen mehr Bedeutsamkeit zu verleihen, als den in mir wahrgenommenen Empfindungen anderer.
Sita Hahn
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Liebe Sita
Das ist ein Volltreffer
Ich habe mich in so vielen Beschreibungen wiedergefunden.
Teilweise hilft es mir,andererseits macht es mich auch traurig.
Auch wenn ich für viele Situationen eine Erklärung habe,fällt es mir so schwer Grenzen zu setzen.
Ich spüre und nehme die Verletzungen sofort wahr,dabei belasse ich es dann auch und ziehe mich zurück.
Danke für das Einstellen dieses Textes,ich werde mich damit jetzt auseinander setzen.Wenn nicht jetzt,wann dann?
Liebe Grüße Jutta
Liebe Jutta,
Trauer gehört zur Heilung dazu. Lehne sie bitte nicht ab. Genauso wenig wie den Schmerz, denn ohne ihn könntest Du die Wunde, die es zu heilen gilt, nicht finden.
Sita
Wow! Ich erkenne mich darin absolut wieder und es hat einige male Klick gemacht. Eine sehr schöne Seite 🙂
Liebe Grüße Michaela
Danke, liebe Michaela!
Liebe Sitia,
die Seite ist ja sehr toll und ansprechend geworden! Deine Artikel lese ich immer mit sehr viel Interesse und meist kommen diese wie gerufen. Dieser hier ist wieder das perfekte Beispiel. Ich habe mich auch schon über Hochsensibilität informiert. Ich bin darauf gekommen, weil mir das alles zu viel Informationen sind, die ich in einem Raum mit z.B. zehn Leuten bekomme. Eigentlich möchte ich mich Geselligkeit und Gästen zu 100 Prozent widmen und nicht jedes einzelne kleine Detail an Stimmung, Laune, Ärger u.s.w. spüren und beobachten. Gefahr schärft die Sinne – ja so ist es!Ich werde durch Deinen Artikel wieder ein Stück besser mit mir arbeiten können. Vielen lieben Dank!
Das ist mir eine große Freude, liebe Annette!
Das ist die Kunst bei sich zu bleiben, vor allem wenn mehrere Menschen anwesend sind und alle kreuz und quer reden.
Bei sich zu bleiben und die anderen sein zu lassen wo sie sind.
Liebe Sita,
erstmal herzlichen Dank für deine guten Überlegungen und ausgefeilten Texte.
Dieser Gedankenschnipsel von mir ist in erster Linie eine Frage!
Hochsensibel sein macht nicht immer glücklich. Ich bin des öfteren durch unnötiges Wettstreiten oder Aggression meiner Mitmenschen irritiert.
Es kann sein, dass solch eine Sensibilität im Zusammenhang mit dem Selbstbewußtsein steht.
Das passt gut zum Thema Berührungslinie/ – Ebene mit ego und der Umwelt.
Selbstbewußtsein kann im ungünstigen Fall etwas egozentrisches haben.
Für mich steht Mitgefühl usw. kulturell höher.
Du hast heute sehr passend das Wort Berührungslinie auf facebook benutzt. Für mich ein sehr komplexes Thema und sozusagen dein Spezialgebiet. Meine Erkenntnisse sind nicht reif für einen öffentlichen Kommentar, bitte nehme es mit einem Schmunzeln hin.
Herzliche Grüße
Deine
Alex
Liebe Alex,
wenn ich Dich richtig verstehe, empfindest Du beim Selbstbewusstsein von Menschen in Deiner Umgebung eine egozentrische Tendenz, die Deinem Bedürfnis, Mitgefühl zu leben, entgegen steht?
Ist Dir bewusst, dass Du über Deine Berührungslinie bestimmst, indem Du den inneren Abstand zu einer Person bestimmst? Wenn Dir etwas zu nahe tritt, ist das ein Hinweis darauf, dass Du vom Anderen etwas erwartest oder erhoffst und dafür Deinen benötigten Abstand aufgibst. Versuche, zu Dir selbst zu kommen und Dein Mitgefühl nicht zu begrenzen. Es darf auch diesen Menschen gelten.
Alles Liebe
Sita
Danke liebe Sita,
deine Antwort hilft mir und passt auf mich.
Meine Frage ging in Richtung Wechselwirkung von:
Selbstbewußtsein ( mir-selbst-bewußt-sein )
Meine selbst bestimmte Berührungslinie
hochsensibel leben.
Bilde ich als Kind eine hohe Sensibilität aus, weil ich zu wenig Kraft aus meinem Innern schöpfe?
Bin ich in einer Entwicklungsphase von Menschen umgeben, die mich nicht wahr genommen haben, genug mit sich selber beschäftigt waren?
Für mich ist jetzt die Ausprägung dieser, von dir benannten Berührungslinie, wie die Verwendung einer Balancierstange für den Seiltänzer.
Das als Kind gewonnene Konzept Sensibilität scheint im Älter werden in unserer Gesellschaft nicht hilfreich.
Herzlichst,
Deine
Alex
Alex, wir bilden eine Hochsensibiliät aus, weil uns die Erfahrung von seelischem Schutz fehlt.
Viele Ängste werden uns erst im Alter bewusst, wenn wir dann nicht mehr für Schwächere stark sein müssen. Das will dann erstmal als Rückkehr zu sich selbst angenommen werden.
Den Gedanken der Balancierstange finde ich sehr gut.
Vielleicht hilft Dir auch folgendes noch etwas im Verständnis.
https://www.facebook.com/sita.hahn.wegbegleitung/photos/a.500332590076700.1073741828.498152420294717/903734496403172/?type=3&theater
Alles Liebe für Dich
Sita
Hallo Sita,
ein wirklich toller Text, der mich sehr berührt. Gibt es eine Kampfsportart die Du empfehlen kannst? Ich kenne mich da überhaupt nicht aus und es gibt so viele…
Liebe Grüße und vielen Dank für diesen Text!
Steffani
Liebe Steffani,
normalerweise nutze ich die Geburtskonstellation um den passenden zu wählen, aber allgemein solltest Du darauf achten, dass es einen gelebten philosophischen Hintergrund gibt. Viele davon enden mit einem „Do“, was für Weg steht. Du willst ja nicht kämpfen lernen, um zukünftig besser zu kämpfen, sondern um nicht mehr kämpfen zu müssen. Je nach Deiner Veranlagung kann das beispielsweise Aikido, Taekwando, manchmal auch Wing Tsun sein. Vor allem aber kommt es darauf an, den richtigen Lehrer zu finden, dem Du vertrauen kannst. Er muss Dir den Raum öffnen, in dem es erlaubt ist, Dein Aggressionspotential zu entdecken und damit umzugehen.
Von Herzen alles Liebe
Sita
Vielen Dank für die rasche Antwort! Ich werde mich mal damit beschäftigen. Meinst du auch sehr dicke Menschen können das tun? Das wäre nämlich mein größtes Problem dabei und ich müsste mich überhaupt trauen…Aber es ist eine wirklich gute Anregung und ich werde mich damit beschäftigen. Dir noch schöne Weihnachtstage und vielen dank für deine immer total spannenden und bewegenden Texte. Die Dinge so auf den Punkt bringen zu können ist eine Kunst! Liebe Grüße
Nun, Dein Gewicht ist Deine bisherige Schutzbastion. Vielleicht solltest Du im ersten Schritt mit Deiner Stimme arbeiten. Übe, immer lauter „ich will“ oder „Ja“ zu schreien, solange, bis Du selbst es Dir wirklich glauben kannst und beginne vorerst mit einem sanften Körpertraining, das wahrscheinlich von jeder Krankenkasse angeboten wird. Oft bedarf es einer gewissen Vorbereitung, bis wir uns auf den Weg zu unserem wirklichen Ziel begeben können.
Alles Liebe
Sita
Liebe Sita!
Täglich lese ich Ihre Analysen und staune über Ihre Fähigkeit, Ursachen auf den Grund zu gehen. Dafür bedarf es einer gelebten Erfahrung, einer psychologischen und spirituellen Kompetenz. Als Astrologin versuche auch ich, anhand der Prinzipien Lösungen zu finden, als hochsensibler KrebsAC haben Sie mir heute wahrscheinlich plausibel erklärt, wie ich meinen Mond im Wassermann aus dem Defizit bringe. Ich danke Ihnen für Ihr Stichwort der Grenzbewahrung. Mit Mars in 12 mit Quadrat zu Pluto wird ein Nahkampftraining zur Herausforderung, ich spüre jedoch schon ganz leicht, wie sich die Schleusen schliessen.
Alles Gute für Sie Danke❤ Doris
Liebe Doris, es mag eine Herausforderung sein, aber es wird Dir gewiss gut tun, denn als Krebs-AC öffnest Du ja gerne erstmal all Deine Türen.
Ganz lieben Gruß
Sita
Liebe Sita,
ich spüre in jeder Faser meines Körpers, dass das auch mein Thema ist!
Danke für den Text, ich nehme mich an mit allem was ist.
Herzliche Grüße
Mathilde
Danke❣️